Eine Phantasie von übermorgen:

Wir schreiben das Jahr 2040. Eigentlich ist alles in Ordnung. Endlich...

Denn die Evangelische Kirche in Deutschland hat die Zeichen der Zeit erkannt, sie ist zur "Kirche der Freiheit" geworden, die Haushalte sind gemäß den Richtlinien des NKF optimiert worden, und alle quality testifyings zeigen beruhigende Werte.

Wir befinden uns in der EKD, Region Rheinland, Unterregion Lahn, am dortigen "Leuchtfeuer", das immer noch aufgrund von nostalgischer Verklärung als "Wetzlarer Dom" bekannt ist. Allerdings den Anforderungen der Zeit gemäß endlich fertig gebaut und somit richtig groß, auf dass er als "Leuchtfeuer" die Region zu lebendigem geistlichen Leben erleuchten möge.

An irgendeinem Morgen im Jahr 2040 nun ruft Frau A. das Modul "Seelsorge und Beratung" an, das sich im Schatten des Domes befindet, dort aber nicht etwa ein Schattendasein fristet, sondern von dort aus die gesamte Region mit Seelsorge und Beratung, mithin mit einem wesentlichen Teil der "kirchlichen Kernkompetenz" (manche gehen sogar soweit, vom "usp = unique selling point" zu reden) versorgt.

Menschen freilich wird Frau A. dort nicht erreichen können. Der einzige Pfarrer, dessen 100%-Stelle noch nicht aufgehoben wurde, weil sie vom Bestatterverband refinanziert wird, ist außer Haus und unterwegs zu einer Strukturplanungskonferenz. Diese ist deshalb nötig, weil die erstellte Gesamtkonzeption seiner Arbeit jährlich an die veränderten demographischen Gegebenheiten angepasst werden muss. Außerdem wird seine Arbeitszeit von einem zentralen Computer verwaltet, strukturiert und kontrolliert. Und da er diese Woche schon zwei Stunden Leerlauf hatte, würde weiterer Leerlauf als geldwerter Vorteil vom Finanzamt (wo sonst kann man noch während der Arbeit im Warmen sitzen, lesen und auf Kosten des Arbeitgebers Kaffee trinken?) gewertet und entsprechend über Jahre hinweg nachgefordert.

Aber Präsenz von Menschen ist auch nicht unbedingt nötig, seit es hochoptimierte Anrufbeantwortungssysteme (= ARBS) gibt.

Frau A. jedenfalls ruft an und erreicht das ARBS. Somit entspinnt sich folgendes Gespräch:

Frau A: "Hallo. Ich möchte dringend einen Pfarrer sprechen."
ARBS: "Guten Tag. Sie sind verbunden mit der Service-Hotline der Evangelischen Kirche in Deutschland, Region Rheinland, Unterregion Lahn, Modul Seelsorge und Beratung. Um ihre Kirchenzugehörigkeit zu verifizieren, bitten wir sie, nach dem Tonsignal die vierstellige PIN-Nummer, die sie mit ihrer Steuerbescheinigung erhalten haben, über die Tasten ihres Telefones einzugeben und danach deutlich und verständlich ihren Namen und ihr Geburtsjahr aufzusprechen. Sollten sie dieser Aufforderung nicht nachkommen können, muss ich sie darauf aufmerksam machen, dass dieser Service pro Minute mit 1,99 Euro berechnet wird. Dieses Geld wird dann direkt mit ihrer nächsten Telekomrechnung eingezogen.
Frau A: "Aber... Ich dachte, dass da der Pfarrer ist. Mein Mann ist gerade gestorben..."
ARBS: "Frau Aber Ich... Darf ich noch einmal um ihre PIN-Nummer bitten?"
Frau A: (tippt ungeduldig)
ARBS: "Diese Nummer passt nicht zu ihrem Namen, Frau Aber Ich. Bitte nach dem Signalton noch einmal."
Frau A: (tippt die PIN nochmal ein, gibt diesmal nur ihren Namen und ihr Geburtsjahr ein und wartet ab)
ARBS: "Danke, Frau Ackermann. Sie werden jetzt sofort weitergeschaltet. Wünschen sie eine Taufe, drücken sie bitte die 1. Wünschen sie eine Trauung, drücken sie bitte die 2. Wünschen sie eine Bestattung, drücken sie bitte die 3. Wünschen sie einen Besuch ohne kasualen Anlass, drücken sie bitte die 4. In diesem Fall möchte ich sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass kein Pfarrer, sondern eine ehrenamtlich mitarbeitende Person bei ihnen zum Erstbesuch erscheinen wird. Je nach Lage des Falles wäre dann auch der Besuch eines Pfarrers möglich. Dies allerdings nur, wenn die Notwendigkeit anhand eines strukturierten Fragebogens von unseren Vertrauensleuten plausibel gemacht wird. Für den Fall, dass sie ein konkretes seelsorgerliches Gespräch suchen, können sie daher auch die 5 drücken, die sie mit der Telefonseelsorge verbinden wird, die 6, die sie mit der Beratungsstelle für Familien- und Ehefragen verbinden wird oder auch die 7, mit der sie das Modul "Kranken-, Alten-, Notfall-, geschlechts- und berufsgruppenbezogene Seelsorge" erreichen. Wiederum muss ich darauf hinweisen, dass diese Module Zusatzmodule sind und insofern kostenpflichtig sein können. Sollten sie allerdings eine Person "triple M" (= Menschen mit Migrationshintergrund) sein, dann steht ihnen nach Wahl der 8 das Modul "interkulturelle Arbeit" zur Verfügung. Diese Arbeit wird staatlich refinanziert und somit ist sie für Sie kostenlos. Für den Fall, dass dies alles nicht das ist, was sie suchen, drücken sie bitte die 9 und alles ist gut.
Frau A: (ungeduldig) "Hören sie... Mein Mann ist eben verstorben. Ich brauche einen Pfarrer, einen Seelsorger. Kein Modul."
ARBS: (hat eine keywordgestützte mood-selection, die schon mehrere Preise für "Innovation im pastoralen Dienst" abgeräumt hat und die für gewöhnlich sehr gut funktioniert. So auch in diesem Fall. Das keyword "verstorben" schaltet den ARBS automatisch auf den "Trauermodus" um. So erklingt eine dezent verpoppte Variante von "Stern, auf den ich schaue" im Hintergrund, während im Vordergrund eine warme, einfühlsame Stimme mit pastoralem Unter- und betroffenem Oberton anhebt, zu sprechen) Frau Ackermann... Sie trauern. Sie dürfen wissen, dass sie in ihrer Trauer nicht allein sind. Wir trauern mit ihnen und wollen mit ihnen Schritte aus der Trauer wagen im Vertrauen auf den, der war, der ist und der sein wird. Männlich oder weiblich?"
Frau A: (genervt) Wie meinen sie das? Männlich oder weiblich trauern? Oder ist der, von dem sie da geredet haben, wahlweise männlich oder weiblich?
ARBS: (zeichnet Antwort auf, spult weiter Fragen ab) "Geburtsdatum? Religionszugehörigkeit? Verwandtschaftsverhältnis zur Person? Sterbedatum? Todesursache? (Etc.)

Dass Frau A. den Hörer daneben gelegt hat, um Fassung ringt und beschließt, vielleicht doch die etwas obskure, aber immerhin in Form von Menschen greifbare Kommunität um die Ecke um Hilfe zu bitten, bekommt ARBS nicht mehr mit.

Später wird das Qualitätsprüfungsamt in seiner wöchentlichen Sitzung mit Befremden zur Kenntnis nehmen, dass wieder ein Mensch verstorben ist, ohne dass er kirchlich bestattet wurde.

Heiko Ehrhardt


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