Was treibt einen Mann, der in Deutschland schon seit Jahren seine verdiente Rente erhalten würde, im Alter von 63 Jahren noch in ein Studio? Und - schlimmer noch - was treibt denselben Mann Abend für Abend auf wechselnde Bühnen?

Wohlgemerkt: Wir reden über einen Mann, der sich und der Welt nichts mehr beweisen muss. Der ein gediegenes Musikstudium hinter sich hat, der zum Kreis um Andy Warhol gehörte, der als Mitglied von Velvet Underground Rockgeschichte geschrieben hat, der es sich leisten konnte, auf den LPs "The Academy in Peril" und "Church of Anthrax" die komplette europäische Musikgeschichte minimalistisch und dadaistisch zu interpretieren, der mit "Damn Life" mal eben Ludwig van Beethovens 9.Sinfonie exekutieren konnte (zumindest die berühmte "Ode an die Freude" war nachher nicht mehr die, die sie vorher war), der mit den Tantiemen für "Hallelujah" wohl für alle Zeiten seine Rente gesichert hat (dabei ist der Song gar nicht von ihm, sondern von Leonard Cohen), der nur mit dem Finger schnippen muss, und Berühmtheiten wie David Bowie, Patty Smith oder Suzanne Vega sind stolz darauf, mit ihm auf einer Bühne zu stehen, und der mehr kreatives Chaos produziert hat, als ca. 90 % der übrigen Rockgeschichte...

Also: Was treibt so einen Mann in ein Studio und auf die Bühne?

Spontan fallen mir drei Antworten ein: Schnöder Mammon, Spaß an der Freude oder aber er ist so durch und durch Künstler, dass er gar nicht anders kann.

Am 28.09. wurde diese Frage in Frankfurt eindeutig geklärt... Angesagt war John Cale mit Band - und niemand wusste genau, was ihn erwartete. Legendär sind Cales Soloauftritte, legendär aber auch die Tatsache, dass Cale durchaus nach drei Stücken die Bühne verlassen konnte, wenn ihm irgendwas nicht passte. Dies freilich hat er sich abgewöhnt - die Setlisten, die überall auslagen, deuteten schon auf Konzertbesuch nicht unter zwei Stunden hin. Das allerdings war dann auch so ungefähr der einzige Schmuck, den man zu sehen bekam. Ansonsten gab es noch rote und blaue Lichter, eine schwarze Bühne, ein minimalistisches Schlagzeug, ein uraltes E-Piano und eine Tasse Tee auf der Bühne zu sehen. Mehr nicht. Jede Abiband hat inzwischen optisch mehr drauf. Womit dann auch klar war, dass es Musik und nur Musik geben würde.

Mit leichter Verspätung - für Cale übrigens atypisch - erklang dann ein langes Geräuschsampling aus den Boxen. Nebenbei: Das einzige Sampling des Abends - der Rest war "music handmade" und ohne die heute üblichen Tricksereien vom Band (wer einmal die Untoten gesehen hat, weiß, was ich meine).

Nach nervenzerfetzenden 5 Minuten reinen Kraches betrat die Band die Bühne. Ein erster Schock: Trat Cale früher in schwarz und mit Sonnenbrille auf, so sah er nun aus, als ob er auf die Schnelle im Frankfurter New Yorker ein paar Klamotten abgegriffen hätte. Erschreckend modern und auf Hip-Hop gestyled. Vermutlich eine Form von schrägem Humor, die ich nicht verstehen muss. Neben ihm noch drei Musiker, die auch gut als seine Kinder durchgegangen wären.

Im ersten Stück lief noch alles recht merkwürdig ab: Cale quälte sein Drittinstrument, die Viola, und sang dazu im Stehen ein merkwürdig schräges Lied. Doch dann griff er zur Gitarre und die nächste Stunde durfte man eine Rockband erleben, die jeder mir bekannten Metalband den A**** abgespielt hätte. Mit dem Unterschied freilich, dass ich keine Metalband kenne, die derart gute Instrumentalisten in ihren Reihen hat. Speziell der Gitarrist durfte sich nach Kräften austoben: Mal tobte er über die Bühne wie ein junger Hund, dann spielte er den wilden Rocker und dann wieder den schüchtern Jungen von nebenan, der den berechtigten Szenenapplaus mit sichtlicher Nervosität quittierte. Ein herausragender Musiker auf jeden Fall.

Nachdem Cale dann eine Stunde Gas gegeben hatte, verzog er sich ans Piano und nun begann eine Art High-Energy-Ambient. Anders kann ich es nicht bezeichnen. Das Tempo wurde spürbar verschleppt, der Gitarrist produzierte merkwürdige, flirrende Sounds und Cale sang sich - teils mit Kopfstimme - durch eine Reihe von avantgardistischen Klangexperimenten. Spätestens jetzt war dem Letzten klar, dass hier Jemand an seiner ureigensten Variante von "Kunst" arbeitet, und dass dieser Jemand sich einen Teufel um Kommerz oder Charts schert. Unkommerzielleres jedenfalls hörte ich selten...

Im letzten Teil des Konzertes wechselte Cale dann noch mal zur Gitarre und mit einer mehr als 10-minütigen, brutal harten Melange aus "Pablo Picasso" und "Gun" brachte er ein Konzert zuende, wie ich selten eines gehört habe. Die obligatorische Zugabe allerdings hätte er sich schenken können: Merkwürdiges Gitarrengesäusel, das offenbarte, dass der Maestro nach mehr als zwei Stunden und kurz vor Mitternacht wohl ins Bett wollte.

Insgesamt aber bleibt der Eindruck hängen, dass die Welt kein sooo schlechter Ort sein kann, solange es noch Menschen gibt, die derart an ihrer Kunst arbeiten, wie John Cale es tut. Dass dies freilich nur eine kleine Minderheit ist, ist eine andere Geschichte, die ein anderes Mal zu erzählen ist.

Heiko Ehrhardt